Bürgerdialogreihe „Europagespräche in Sachsen-Anhalt“
Europa zu Gast in Bitterfeld-Wolfen
Auf Einladung von Oberbürgermeister Armin Schenk zum Europagespräch im Rathaus Wolfen waren sechzig interessierte Bürgerinnen und Bürger gekommen, um ihre Fragen und Meinungen zu Europa zu diskutieren. Gesprächspartner waren Gabriele Brakebusch, Landtagspräsidentin von Sachsen-Anhalt, Patrick Lobis, Leiter der politischen Abteilung der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland und Dr. Michael Schneider, Staatssekretär für Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Sachsen-Anhalt. Auch Arne Lietz, Europaabgeordneter aus Sachsen-Anhalt, war im Zuhörerkreis. Mit der Frage nach der beruflichen Entwicklung der Politikvertreter eröffnete Moderator Ralf Geißler die Gesprächsrunde und so erfuhren die Zuhörer, dass die Landtagspräsidentin früher einen Kindergarten geleitet hat, ihr Oberbürgermeister eine Elektrikerlehre absolviert hat und Dr. Schneider von Hause aus Historiker ist. Lobis hat Betriebswirtschaft und Politikwissenschaften studiert und bereits in verschiedenen Positionen bei Unternehmensberatungen und in der EU-Kommission gearbeitet.
Im Vorfeld des Europagesprächs wurden viele Fragen eingereicht. Mit der ersten ging Moderator Geißler gleich in die Vollen: „Europa macht mir Sorgen: nationale Themen stehen im Fokus und Europa rückt in den Hintergrund“ und „Durch die sozialen Medien wird es immer leichter, Falschmeldungen zu verbreiten und Meinungen zu beeinflussen“. Dr. Schneider antwortete, dass die EU ihren Zusammenhalt und somit ihre Verhandlungsposition auf internationalem Parkett stärken müsse. Einzelne Nationalstaaten, auch Deutschland, haben gemessen an den globalen Wirtschaftsräumen allein nur geringe Einflussmöglichkeiten. In den Nachrichten herrschten nationale Themen vor, aber man müsse unbedingt das „große Ganze“ im Blick behalten.
Ein Bürger fragte nach dem Anteil, den die Bundesrepublik an die EU zahlt und wieviel davon aus Sachsen-Anhalt kommt. Ein weiterer Teilnehmer verwies darauf, dass Deutschland größter Nettozahler an die EU ist. Lobis nannte die konkreten Zahlen: „Die Überschusszahlung Deutschlands beträgt insgesamt 10 Mrd. Euro lt. EU-Haushalt 2017, das sind 129 EUR im Jahr pro Einwohner.“ Dr. Schneider ergänzte, dass Deutschland als Exportweltmeister von den florierenden Volkswirtschaften der anderen EU-Länder und dem Geldrückfluss durch den freien Warenverkehr in der EU profitiert. Über die Strukturfondsförderung fließen ca. 3 Mrd. Euro im Rahmen der aktuellen Förderperiode (2014-2020) nach Sachsen-Anhalt (ELER, ESF, EFRE). Hinzukommen erhebliche Mittel aus diversen EU-Aktionsprogrammen wie beispielsweise Horizon 2020 (Forschung), Interreg (interregionale Zusammenarbeit) oder ERASMUS+ (Mobilität für Studierende, Azubis, Lehrende, usw.). Oberbürgermeister Schenk verwies auf die vielen mit EU-Mitteln geförderten Investitionen in Bitterfeld-Wolfen und der umliegenden Region, wie den Bitterfelder Bogen, die MIBRAG, die Chemieindustrie und den damit gesicherten oder geschaffenen Arbeitsplätzen.
Die Frage nach noch nicht abgerufenen Fördergeldern aus Brüssel beantwortete Landtagspräsidentin Brakebusch, indem sie auf Verzögerungen bei der Programmierung und Budgetierung der aktuellen Förderperiode verwies und auf die Problematik der Bereitstellung von Eigenanteilen Sachsen-Anhalts zur Kofinanzierung, was wiederum mit dem Landeshaushalt zusammenhängt. Dr. Schneider erläuterte die N+3-Regelung nach der die zur Verfügung stehenden Mittel eines Jahres n in diesem sowie den darauffolgenden drei Jahren ausgegeben werden können. Damit können die EU-Gelder für Sachsen-Anhalt bis zum Ende des Jahres 2023 ausgegeben werden. Voraussetzung ist, dass die Förderanträge in der aktuellen Förderperiode gestellt werden.
Wie auch in den vorangegangenen Europagesprächen wurden die bürokratischen Hürden bei der Antragstellung für die Förderprogramme kritisiert. Dr. Schneider versicherte, dass die Regelungen für die europäischen Gelder in der nächsten Förderperiode vereinfacht werden sollen. Entsprechende Maßnahmen seien bereits im aktuellen Vorschlag der EU-Kommission enthalten.
Weitere Themen der Diskussion war die Fortsetzung erfolgreicher ESF-Projekte nach dem Ende der aktuellen Förderperiode, der Erhalt der kulturellen Vielfalt in den Mitgliedsländern, der Umverteilung des EU-Haushalts nach dem Brexit, die Verteilung von Kommissaren auf die EU-Mitgliedsländer, die EU-Sanktionen gegen Russland, das Europa der Zukunft und anderes.
Auf die Frage zu europäischen Partnerschaften von Städten, Regionen, Schulen und anderen Organisationen erläuterte Oberbürgermeister Schenk: „Bitterfeld-Wolfen pflegt eine Vielzahl von Partnerschaften, die zum kulturellen, organisatorischem oder persönlichen Austausch mit z.B. Frankreich, Italien oder Österreich beitragen. Viele Bürgerinnen und Bürger aus der Region engagieren sich in Freundschaftsvereinen und tragen so zur Völkerverständigung aktiv bei.“
Die Frage, welche Werte alle EU-Mitgliedstaaten vertreten und wie die EU der Zukunft aussieht, schloss die lebhafte Diskussion ab: Lobis verwies auf die Grundwertecharta des Lissabon-Vertrages in dem die kulturelle Vielfalt Europas als Stärke unterstrichen wird mit dem Slogan „Einheit in Vielfalt“. Er sieht die zukünftige EU als wichtigen Partner in der Welt, der sich um Klimaschutz, Wettbewerbsfähigkeit und soziale Gerechtigkeit nach den Prinzipien der Subsidiarität kümmert. Oberbürgermeister Schenk verwies auf das derzeitige Erstarken nationaler Tendenzen. Auch er sieht für die Zukunft eine starke EU mit einer gemeinsamen Verteidigungspolitik. Die Mitgliedstaaten werden sich einen gewissen Grad eigener Souveränität bewahren und die Aufgabenteilung mit den EU-Institutionen erfolgt konsequent nach dem Subsidiaritätsprinzip.
Dr. Schneider sieht die zukünftige EU als eine Gemeinschaft von Staaten, die gemeinsam Terrorismus bekämpft und ihre Verteidigung und Grenzsicherung gemeinsam organisiert, viele Aufgaben aus Brüssel an die Mitgliedstaaten und Regionen zurückgegeben hat und damit jede politische Ebene ihre eigenen Kompetenzen besser ausschöpfen kann. Landtagspräsidentin Brakebusch sagte: „Die nächste Generation muss Verantwortung übernehmen. Reisen und Austausch weitet den Blick für europäisches Denken. In Europa gelten christlich-humanitäre Werte tagtäglich für alle.“
Wir leben in einer Epoche großer Veränderungen und Herausforderungen. Ein geeintes, starkes Europa ist wegweisend und unabdingbar in dieser Zeit.
Armin Schenk - Oberbürgermeister Bitterfeld-Wolfen